Immer nach Haus. (Novalis)
Von Ina Ockel
Wie viele Menschen würden das wohl von sich behaupten: egal, wohin sie gehen, wohin sie sich bewegen, sie gehen immer nach Haus? ...wenn sie ihrem Herzen folgen. Wenn! Selbst wenn das Herz gerade nichts zu sagen hat und der Weg nicht direkt nach Hause führt - Umwege erweitern bekanntlich die Ortskenntnis - irgendwann geht es eben doch immer nach Haus. Weil man nicht vor sich selbst wegrennen kann. Naturgesetz.
Im Idealfall, und das ist eine der für mich schönsten Konstellationen, findet das Herz bei sich selbst UND in einer Wohnung ein Zuhause.
Ich finde WOHNEN gehört zum Intimsten und Privatesten, was es gibt. Warum? Ich schaue mich in meiner Wohnung um. Es gibt kaum Dinge, die ich weg- oder aufgeben möchte. Die Bücherwand: ein Sammelsurium unterschiedlichster Lebens- und Lesephasen. Die Möbel: zusammengetragen aus der Gebrauchtwaren-, Selbstbau-, Kunst- und Möbelmarktwelt. Der Arbeitsplatz: eine Minibaustelle, auf der Bilder und kleine Skulpturen entstehen. Die Küche: schön, klein, unpraktisch, dennoch oder gerade deswegen ein Genussort. Die Wände: mit persönlichen Fotos und Bildern behängt, dazwischen … Leerräume. Die Fenster: vier von fünf Fenstern meiner Erdgeschosswohnung öffnen sich zur Straße. Fast auf Augenhöhe sehe ich aus meiner Privatsphäre direkt in die Straße, in die Welt.
Gehen die alle wirklich nach Haus? Alles zusammen ist Ausdruck meines Lebens, das sich im bescheidenen Maße in meiner Wohnung "verdinglicht" hat. Und hier "wohne" ich. Wohnen ist eine Aktivität und braucht immer einen Ort. Wenn ich "wohne", tue ich möglicherweise Dinge, die ich auch woanders tuen oder lassen kann… Sitzen, lesen, schlafen, essen, reden, lieben, lachen, weinen… Oder unterwegs… Go to go to go.
Doch in meiner Wohnung geschieht das ganz "unter Ausschluss der Öffentlichkeit" (noch!). Hier bin ich, sind wir auf uns selbst bezogen. Hier brauchen wir keine Rolle spielen. Hier dürfen wir wir selbst sein. Jemand, der wenig "wohnt", kommt da möglicherweise aus der Übung. Hat das, als Massenphänomen betrachtet, Folgen? Jedenfalls habe ich die Erfahrung gemacht, dass "Wohnen" - an einen Ort, an die Wohnung gebunden - ungemein fokussieren und innere Sammlung geben kann. Was nicht unbedeutend ist in unserer aufgeregten Welt. Hier kann ich fürs Leben lernen. Und deshalb ist es auch so privat, das Wohnen. Im besten Fall ist "Wohnen" ein Akt der Lebensgestaltung, der Lebenskultur.
Und nicht der "Rest eines Tages", den man zwischen Bett, Bad und Fernseher irgendwie verbringt (auch diesen Zustand kenne ich). Egal, ob ich im Zelt, in der Villa, im Reihenhaus oder im Siebengeschosser wohne. Damit ich nicht falsch verstanden werde: ich meine nicht die Kultivierung im intellektuellen Sinne, nicht die Benimmregeln oder das regelkonforme Verhalten, nicht die Klavierstunden, nicht theoretisches Wissen und nicht organisiertes Geselligsein. Ich meine etwas ganz Pragmatisches: wie ich meinem Leben durch alltägliches und unspektakuläres Tun (je unspektakulärer desto besser) eine Form geben kann… Und sei die Form auch mal leer (die es dann zu erleben und vorbeiziehen zu lassen gilt). Romantik? Gar Luxus? In Zeiten des Menschseins als "global player" scheint das eine antiquierte Vorstellung zu sein.
Doch ich bin davon überzeugt, dass z.B. Kinder, die eine Form der Lebenskultur "Wohnen" im Sinne von "Rückzug" oder "zweckfreiem Nurdasein" oder des "Spiels" lernen, die stabileren Menschen sein werden. Und so bekommt etwas, was ganz individuell und privat und familiär entsteht, eine gesellschaftliche, öffentliche Dimension. Wenn wir dann auf der Straße gefragt werden, wohin wir denn gehen, können wir sicher sagen: "Immer nach Haus."
[ Ina Ockel ]