Veränderungen sind oft damit verbunden, dass sich etwas öffnet. Eine Grenze zum Beispiel. Wie 1989 in der DDR. Es führte zu Veränderungen für ein ganzes Volk.
„Liebe Freunde, Mitbürger, es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung!“ Mit diesen Worten begann der Schriftsteller Stefan Heym, von den Veranstaltern als „Nestor unserer Bewegung“ angekündigt, seinen Redebeitrag vor einer halben Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz. Am 4. November 1989. Schon seit Wochen hatte es Demonstrationen gegeben in vielen Städten der DDR und immer noch bestand die Gefahr, dass bewaffnete Truppen die bis dahin friedlichen Massenproteste mit Gewalt niederschlugen. Wir hatten in Karl-Marx-Stadt mitdemonstriert. Unsere damals noch kleinen Kinder setzten die Demos danach in unserem Wohnungsflur sogar noch fort – mit unserem Spruchband und dem Ruf „Egon (Krenz), wer hat uns gefragt?“. Nun verfolgten wir mit Millionen anderen Menschen am Bildschirm die Berliner Demo. Hier trugen die Menschen nun in einer ungeheuren Vielfalt ihre Regierungskritik auf Transparenten vor sich her. Es waren unmissverständliche und ultimative Forderungen: Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, freie Wahlen, Demokratie. …Und immer wieder „Wir sind das Volk“.
Das politische System geriet an diesem Tag ins Wanken. Ganz viele Menschen erfüllte ein unbeschreibliches Gefühl der Vorfreude. Dass diese Entwicklung zu einer demokratischen Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten ist, dass sich das Leben jedes Einzelnen verändern wird. Fast alle Träume und Erwartungen schienen jetzt noch denk- und einlösbar. Unzweifelhaft erlebten wir eine Sternstunde unserer Geschichte… Drei Tage nach dieser Demo trat die Regierung der DDR zurück, einen Tag später das Politbüro der SED. Am 9. November – eher beiläufig auf einer Pressekonferenz verkündet – wurde die Grenze geöffnet. In der Gesellschaft und auch in den Betrieben folgten nun Debatten, Gespräche, Auseinandersetzungen und die unterschiedlichsten politischen Einflussnahmen, vor allem der Parteien der Bundesrepublik. Letzten Endes „trat am 3. Oktober 1990 die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik bei“. Mein bisheriger Betrieb, der Volksbuchhandel, wurde bald darauf privatisiert. Ich wurde arbeitslos, ging in Freiburg im Schwarzwald auf Arbeitssuche. Ich hatte Glück und bekam auf Anhieb eine Stelle als Buchhändler. In einer der größten Buchhandlungen des Landes. Ich musste viel dazulernen, genoss aber die für mich neuen Mitwirkungsmöglichkeiten in vollen Zügen. Sah mich bei der Gewerkschaft um, war bald stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, erlebte im eher beschaulichen Freiburg mehrfach den bis heute umstrittenen „Kirchenrebellen“ Eugen Drewermann, ging zu Lesungen und Diskussionen und entdeckte auf dem riesigen Buchmarkt viele mir bis dahin unbekannte Autoren. In der Freizeit engagierte ich mich bei Greenpeace. In der Reisezeit waren wir vor 1989 mit dem Fahrrad Jahr für Jahr in Richtung Osten und Südosten unterwegs. Nun durften wir endlich auch in die anderen Himmelsrichtungen aufbrechen und erkundeten Frankreich, Norwegen, Irland und andere Länder…
Die vier Jahre in Freiburg empfinde ich bis heute als Glücksfall. Ich hatte wie Millionen andere Ostdeutsche eine Veränderung in allen Lebensbereichen erlebt, einen „Crashkurs Mündiger Bürger“ sozusagen und dabei viele sehr angenehme Menschen kennengelernt. Ich war nun bestens vorbereitet auf meine nächste berufliche Station, die Leitung einer Buchhandlung in Weimar, diesmal unter marktwirtschaftlichen Bedingungen.
Nicht immer bedarf es einer spektakulären Grenz¬öffnung, damit sich einem Türen zu eigenen Veränderungen öffnen. Manchmal erfährt man über eine kleine Zeitungsanzeige, dass an einem Ort eine Tür offensteht: Haben eine Bufdi-Stelle zu besetzen für unsere Kinderbetreuung. So annoncierte das Mütterzentrum Ende 2016 in der Braunschweiger Zeitung. Ich war nach meinem Berufsleben gerade auf der Suche nach einer solchen Stelle, bis dahin vergebens. Ich bewarb mich im Mütterzentrum, wurde tatsächlich eingestellt und bin über die Bufdi-Zeit hinaus bis heute geblieben. Schon wieder ein Glücksfall für mich, weil ich hier nämlich den Kontrast zu meinem bisherigen Arbeitsleben fand. Wo bei mir über viele Jahre vor allem wirtschaftliche Kennzahlen dominierten und immer Hamsterrad und Tunnelblick drohten, steht im Mütterzentrum etwas ganz anderes im Blickpunkt. Sicher sind auch hier finanzielle Mittel vonnöten, Zuschüsse und Spenden, und die Balance von Einnahmen und Ausgaben bleibt ein Muss. Die eigentliche Währung hier aber ist eine andere: Freundlichkeit, Aufmerksamkeit, Interesse an der Lebenssituation der anderen. Erst damit wird der achtsame Blick auf die Menschen neben uns möglich. Auf ihre Eigenheiten, ihre Sorgen, ihre Lebenswege und ihre kulturellen Wurzeln. Dieses für mich neue Miteinandergefühl hat mich auch selbst ganz schön verändert. So sehr, dass ich mich manchmal nicht wiedererkenne: Wenn ich auf dem Fahrrad an einem Bekannten vom Mütterzentrum vorbeifahre, grüße ich mit lebhaftem Winken. Wenn ich jemandem etwas Verletzendes gesagt habe, entschuldige ich mich schnellstmöglich. Ich spreche in Warteschlangen oder anderen Menschenansammlungen viel schneller unbekannte Menschen an. Ich bin gern albern und blödele rum. Ich genieße es regelrecht, unsere Kinder hier in ihrer Lebensfreude zu erleben und empfinde dabei auch eigenes Kindsein noch einmal. Meine Phantasie, scheint mir, ist lebendiger und bunter geworden. Ich lerne, die Menschen so zu akzeptieren wie sie sind.
Ich halte uns hier im Haus für eine bemerkenswerte Gemeinschaft. Und freue mich, dazuzugehören.
Dabei ist Veränderung im Mütterzentrum oder im MehrGenerationenHaus geradezu Programm. Zukunft vorleben heißt der eigene Anspruch und bezieht sich auf die großen Bereiche des Zusammenlebens und unseres nachhaltigen Umgangs mit der Natur und ihren Ressourcen. Dafür stehen solche Projekte wie die Wunschgroßeltern oder das Netzwerk Gemeinsam Wohnen Braunschweig. Nachhaltigkeit steckt im Secondhandladen und den Geschenkangeboten in den Eingangsbereichen. Achtsamkeit im Miteinander steckt in den Teilhabeprojekten, in den Integrationsaktivitäten oder dem vielfach vorgelebten Ehrenamt hier bei uns. ZUKUNFT VORZULEBEN ist für jeden von uns aber auch Aufforderung und Chance, sich selbst Gedanken zu machen. Bestimmte Fakten zur Kenntnis zu nehmen: Wir leben extrem weit über den Lebensverhältnissen der anderen. Wir Industriestaaten haben u.a. mit Rüstungsexporten und Kriegsbeteiligungen eine Mitschuld an den großen Fluchtbewegungen. Wir Industriestaaten verursachen mit den Schwellenländern den CO2-Ausstoß, aber die dadurch beschleunigten Katastrophen spüren zuallererst die ärmsten Länder. Der Wissenschaftler Stephan Lessenich hat es so formuliert: Wir holen alles, was wir zur Erzeugung unseres Wohlstands brauchen, von außen, und genau dorthin schaffen wir auch das meiste weg, was nach dem Gebrauch der Dinge übrig bleibt: Schrott, Abfall, Emissionen. Was können wir - vielleicht jetzt schon beginnend - dem entgegensetzen? Unser Verhalten ändern? Aber wie? Wir spenden oder schenken manchmal und geben etwas ab, aber auf das Teilen und den Ausgleich sind wir bisher kaum vorbereitet. An einem Tag des Jahres, zu St. Martin, denken wir ganz besonders an das Teilen, aber wir haben keinen Plan, wie das Teilen als Lebenshaltung überhaupt aussehen kann. Wir beschäftigen uns damit bisher nicht im Globalen und auch nicht im Kleinen. Beginnen wir einfach, mit kleinen Schritten. Und machen anderes Vorbildhaftes immer auch öffentlich.
Diese Tür zur Änderung unseres Verhaltens muss ZUKUNFT JETZT! heißen, statt NOTAUSGANG, wenn alles zu spät ist.
[ Georg Grätz ]