von Henning Voß, Leiter der Anlaufstelle für Straffällige, CURA e.V. Braunschweig
Nachbarschaft ist anstrengend, bedeutet Verpflichtung, Rücksichtnahme, manchmal auch Lärm, Kindergeschrei, stampfende Schritte in der Wohnung über mir, gelegentlich sogar Streit.
Was aber bedeutet Nachbarschaft, wenn ich gar keine Nachbarn habe. Und das nicht, weil ich ein freistehendes Haus besitze, das von anderen Menschen so weit entfernt ist, dass sie gar nicht so richtig meine Nachbarn sind. Oder weil ich z.B. in Skandinavien wohne, wo die nächste Ansiedlung `zig Kilometer entfernt ist.
Nein, es gibt Menschen, die haben keine Nachbarn, weil sie gar nicht wohnen, weil sie wohnungslos sind und daher auf der Straße leben müssen. Wer nicht wohnt, hat auch keine Nachbarn, außer vielleicht Insekten, Schnecken oder Ratten.
Doch muss ein Mensch, der keine Wohnung hat, in unserem reichen Land auf der Straße leben? Nicht unbedingt. Jede Kommune ist verpflichtet, wohnungslose Menschen unterzubringen. Allerdings nicht in einer Wohnung, sondern in einem Obdach, in einer Notunterkunft. Häufig, auch hier in Braunschweig, in 3-4 Bettzimmern, mit anderen fremden Menschen in einem Zimmer, mit Zimmergenossen, die ich mir nicht ausgesucht habe, vor deren Blicken ich mich selbst im Schlaf nicht schützen kann, Menschen mit vielfältigen Problemen wie Sucht, psychischen Erkrankungen oder anderen Auffälligkeiten, vor denen ich weder mich noch meine bescheidene Habe sichern kann. Und in manchen Obdächern, z.B. in Hamburg, muss ich meine Unterkunft sogar tagsüber verlassen, egal, ob es draußen regnet, schneit oder friert. Und ich darf nicht selbst entscheiden, wann ich meinen Rückzugsort benötige, wann ich Ruhe brauche, wann ich mich aufwärmen möchte. Tja, und dann habe ich nur noch die Wahl, ob ich diese Zwangsnachbarschaft annehme oder mich für ein Leben ohne Nachbarn, z.B. im Eingang einer Bank, auf der Parkbank oder unter einer Brücke entscheide. Schöne Wahl.
Machen wir uns klar, was es für ein wertvolles Gut ist, überhaupt eine Wohnung zu haben, nicht zwingend als Eigentümer, aber doch zumindest als Mieter. Meine „eigenen vier Wände“, in die ich mich zurückziehen kann, in denen ich eine gewisse Privatsphäre habe, die mich wärmen, in denen ich mein Hab und Gut aufbewahren kann, auch wenn es noch so gering ist, die mir Schutz vor fremden Blicken geben - oder aber einfach Rückzug und Ruhepol nach einem anstrengenden Tag.
Aber nur, wenn ich über eine Wohnung verfüge, habe ich zumindest die Chance, für mich zu entscheiden, ob meine Nachbarn in erster Linie laut, anstrengend und rücksichtslos sind, oder aber doch nett und freundlich, hilfsbereit, oder gar eine menschliche Bereicherung für mein Leben sein können. Menschen ohne Wohnung haben all dies nicht. Sie haben keine Nachbarn.
[ Henning Voß ]