Von Ulrike Adam
Zum Thema „Vorbilder“ sind mir viele Menschen mit besonderen Lebenswegen und außergewöhnlichen Fähigkeiten eingefallen, oder andere, die mit ihrem Mut oder ihrem Engagement beeindrucken. Trotzdem möchte ich am liebsten das Porträt einer ganz anderen Frau zeichnen: Meiner Urgroßmutter. Über sie stand nie etwas in den Zeitungen und sie hat auch keinerlei Werke hinterlassen, die ich vorzeigen könnte. Eigentlich hat sie nur so gelebt wie viele andere Frauen zu ihrer Zeit ebenfalls.
Friderike B., Jahrgang 1884
Geboren ist sie 1884 in einem kleinen Dorf in Pommern. Ihre Familie zog nach Stettin, wo sie ihren künftigen Mann kennen lernte: Julius, einen Schiffszimmermann. Nach ihrer Hochzeit 1906 bekam sie jedes Jahr ein Kind, vier insgesamt. Leicht war das Leben einer kinderreichen Arbeiterfamilie zu dieser Zeit nicht. Die Preise stiegen, die Löhne sanken. Julius, die Abenteuerlust eines Seemannes im Herzen, schmiedete einen Plan: Er kaufte ein Fischerboot und machte sich als Fischer selbständig – in Warnemünde. Also packte Friderike ihr Hab und Gut und ihre vier kleinen Kinder ein und folgte ihrem Mann, um auf dem Warnemünder Markt Fische zu verkaufen. Allerdings gab es nicht viele Fische zu verkaufen: Das kleine Motorboot war dauernd kaputt und kostete mehr als es einbrachte. Um ihre Familie über Wasser zu halten, verkaufte Friderike statt dessen Gemüse. Es heißt, sie sei keine sehr gute Geschäftsfrau gewesen und habe stets mehr verschenkt als verkauft.
Kurz vor Ausbruch des Krieges gab die Familie auf und kehrte mittellos nach Stettin zurück. Der erste Weltkrieg machte das Leben nicht einfacher, und die Nachkriegszeit brachte neue Probleme. Während die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, sorgte Friderike sich bereits um ihre Enkelkinder. Ihr Sohn heiratete überstürzt ein blutjunges Mädchen, das kurz nach der Hochzeit ein Frühchen zur Welt brachte. Friderike hielt das winzige Baby auf dem Herd in einem mit Decken ausgeschlagenen Bräter warm. Das Kleine überlebte, blieb aber ein Sorgenkind. Friderikes Jüngste - unstet, eigenwillig und lebenshungrig – ließ sich kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges scheiden. Ihren Sohn gab sie in die Obhut der Großmutter. Friderike zog ihren Enkel inmitten der Kriegswirren liebevoll auf. Das Kriegsende machte die Familie zu Flüchtlingen und verstreute sie in verschiedene Richtungen. Die deutsch-deutsche Grenze trennte Friderike und ihren Mann von dreien ihrer Kinder, von vieren ihrer sechs Enkelkinder.
Nachdem Julius gestorben war, holte die resolute jüngste Tochter ihre Mutter auf einer abenteuerlichen Flucht in den „Westen“. Friderike lebte noch einige Jahre bei ihrer jüngsten Tochter in Goslar. Zwei Urenkel hielt sie im Arm, bevor sie 1965 starb.
Als ich meine Tante fragte, was für ein Mensch ihre Oma gewesen sei, erzählte sie: „Oma war immer fröhlich und hat unheimlich gerne gelacht. Sie hat mit uns Kindern Verstecken gespielt, obwohl sie nach dem Krieg am Stock ging. Sie war für jeden Spaß zu haben und hat uns Lieder vorgesungen. Das einzige, was sie nicht leiden konnte, war das Radio. Zuviel Technik. Dazu sagte sie immer im schönsten Platt: ‚Dat mutt rut utm Hutt!‘ („Das muss raus aus dem Haus!“) Und immer war sie am Sockenstopfen. Wahrscheinlich hat sie in ihrem Leben Tausende von Socken gestopft. Darin war sie Meisterin.“
Ich könnte meine Uroma nicht unbedingt als ein Vorbild bezeichnen, aber ich bin sicher, dass gerade Menschen wie sie die Welt – besonders in dunklen Zeiten – ein bisschen wärmer machen.
[ Rita Dippel mamma mia AUSGABE 52 / 01 2016 ]