Von Anke Bierbaum-Schulte
Im Mütterzentrum/ MehrGenerationenHaus Braunschweig gehen täglich viele Menschen unterschiedlichsten Alters, unterschiedlichster Nationalitäten und mit buntesten Lebensgeschichten ein und aus.
Familie B., die wir hier antreffen, war in anderen Erdteilen zu Hause und auch, bevor sie sich in Braunschweig zusammen niederließen.
Dieter, der Vater der Familie, 1954 geboren, wuchs in Bergisch Gladbach in der Nähe von Köln auf. Er stammt aus einer großen Familie. Zurück erinnert an seine Kindheit mit zehn Geschwistern denkt er gerne an die Wanderausflüge mit seinem älteren Bruder. Mit vierzehn Jahren begann Dieter eine Ausbildung zum Matrosen zur See und bereiste Häfen in Südafrika, dem Persischen Golf, Saudi Arabien und dem Sudan, um nur einige der Länder zu erwähnen.
Damals hatten die Frachtschiffe längere Liege- und Ladezeiten als heute und es gab mehr Zeit (manchmal sogar 1–2 Wochen), Land und Leute kennen zu lernen. Seine Mutter war zwischenzeitlich nach Braunschweig gezogen und nach drei Jahren des unsteten Lebens genug arbeitete Dieter mit festen Boden unter den Füßen bei der Braunschweiger Firma MIAG und schob Güterzüge u.a. auch am ehemaligen Westbahnhof vorbei oder zur BMA (Braunschweigische Maschinenbauanstalt), auch dort entlang, wo heute der jährlich veranstaltete Ringgleisflohmarkt stattfindet.
Eine zwischenzeitliche Eheschließung und Familiengründung, der zwei Kinder entstammen, verlief nicht immer glücklich. Nach seiner Trennung zog es Dieter für sechs Jahre nach Belgien. Beruflich suchte er sich wieder ein Betätigungsfeld, in dem er in Bewegung sein konnte – er arbeitete die nächsten fünfzehn Jahre von 1982–97 als Kraftfahrer. (Für das Mütterzentrum erledigt er heute auch wieder Fahrdienste).
Dann machte er sich auf den Weg nach Brasilien.
Elisabeth, Dieters heutige Frau und weiteres Mitglied in dieser weltenbummlerischen Familie, wurde in der brasilianischen Millionenstadt Curitiba (gesprochen: Kurischiba, ein Wort indianischen Ursprungs, Bedeutung: Land mit vielen Pinien) geboren und wuchs als ältestes Kind mit drei jüngeren Brüdern und vier Generationen in der Familie, d.h. zehn Personen täglich um sich herum, auf.
Eine ihrer Kindheitserinnerung ist, dass immer jemand da war und Zeit für die Kinder der großen Familie hatte. Von Mutter und Großmutter lernte Elisabeth viele Handarbeitstechniken und auch das Kochen und Backen. Ihren Kuchen „Nega Maluca“ gibt es heute oft im Café des Mütterzentrums, wenn sie dort am Nachmittag als Dienstfrau anzutreffen ist. Aus ihrer Familienchronik berichtet Elisabeth, dass ihr Großvater vierzig Tage nach seiner Hochzeit starb, für den Fortbestand seiner Familie aber bereits gesorgt hatte. Auf Land und Leute angesprochen beschreibt Elisabeth sich als typische Brasilianerin, in ihren Adern fließe italienisches, französisches, deutsches, spanisches, holländisches und indianisches Blut.
Brasilien galt als Rohstofflieferant (Holz, Gold, Zuckerrohr), interessant für europäische Kolonialmächte. Über drei Jahrhunderte war es eine portugiesische Kolonie.
Elisabeths Vater arbeitete in einem technischen Beruf und ihre Mutter als Lehrerin. Letztere kannte sich gut mit Hausmitteln gegen Krankheiten aus und bereitete selbst einen Kräutertrank zu, der für viele ‚Zipperlein‘ ein gutes Heilmittel war.
Daran erinnert sich auch die zwölfjährige Tochter Stefanie.
Nach dem Tod der Großmutter wird das Haus verkauft und die Großfamilie verkleinert sich.
Elisabeth arbeitete nach ihrem Pharmaziestudium ab 1986 elf Jahre in verschiedenen Apotheken in Curitiba, auch in der Universitätsbibliothek und dort dann auch als Dozentin, betreute Praktikanten, war gewerkschaftlich aktiv und machte Lobbyarbeit im National Kongress.
Diese beiden Länder, Deutschland in Europa und Brasilien in Südamerika, liegen Luftlinie ca. 10 000 km voneinander entfernt und es stellt sich die Frage, wie über diese Distanz eine Brücke gebaut werden konnte. Dieter, den wir auch im Mütterzentrum im Umgang mit modernen Medien als bestens vertrauten und hilfsbereiten Menschen erleben, war auch 1997 schon weltweit online unterwegs und schrieb unter Nutzung des Mirc-Programms und des Kanals Deutschland in einem ‚Chat‘: „Hallo Brasilien!“ Elisabeth, die damals im Goetheinstitut Deutsch lernte angeregt durch ihre Großmutter, 35 der der Satz „Ich habe Durst“ als einziger Satz der Sprache ihrer deutschen Vorfahren im Gedächtnis geblieben war, hatte Interesse an diesem Land.
Sie wusste, es gibt dort eine gute Pharmaindustrie, und die besondere Fachwerkbauweise der Häuser war ihr auch in Erinnerung geblieben. Also antwortet sie auf die Anfrage. Trotz vier Stunden Zeitverschiebung entsteht ein reger Schriftverkehr, der allerdings damals von langen Wartezeiten und längst nicht so gut funktionierendem Internet wie heute bestimmt wurde. So entwickelt sich nach neun Monaten das Bedürfnis, endlich auch die Stimme des anderen zu hören. Da Elisabeth im schriftsprachlichen Englisch geübt ist, wird die mündliche Verständigung am Telefon von vielen lustigen Missverständnissen bestimmt und auch von der Sorge, als Dieter sich über Frankfurt – Madrid – Sao Paulo und vierzig Stunden Reisezeit auf den Weg nach Brasilien macht, sich miteinander verständigen zu können. Selbst das Treffen am Flughafen war nicht ohne Komplikationen.
Eine Freundin hilft als Dolmetscherin, die ersten Hürden zu überwinden. Dieter wird von der Familie und dem neuen unbekannten Land aufgenommen.
Es gefällt ihm. Er möchte gerne bleiben.
Sein Touristenvisum läuft nach drei Monaten ab. Mit vielen Problemen bekommt das junge Paar alle notwendigen Papiere für eine Heirat zusammen, Dieter benötigte nämlich eine Ehefähigkeitsbescheinigung aus Belgien als Voraussetzung für die Eheschließung in Curitiba.
Alle Hindernisse werden gemeistert.
Die beiden heiraten im Dezember 1997 und leben zehn Jahre gemeinsam in Brasilien.
Dieter ist Hausmann, kümmert sich um die Kinder Marco und Stefanie, die 1999 und 2002 geboren werden, und fühlt sich in diesem Land, seiner Kultur und seiner Mentalität wohl. Da die sozialen Unterschiede hier sehr groß sind, Kriminalität auf den Straßen, auch Angriffe auf Personen wegen neuer Schuhe oder einer Hose nicht selten sind, wohnt die Familie in einer kleinen Wohnung auf einem von Security und einem Pförtner am Eingang bewachten Gelände.
Elisabeth arbeitet in der Universitätsapotheke und Dieter sorgt für die Kinder. Seine Rolle als Hausmann wird allerdings nicht von allen verstanden, auch nicht von Elisabeths Familie. Er ist häufiger Besucher der Bibliothek von Curitiba oder in Antiquariaten und liest viele Bücher deutscher und amerikanischer Autoren, gerne auch von Hans Fallada (z.B. Wer einmal aus dem Blechnapf frisst). Er hat Kontakte zu anderen deutschen Familien und liebt die blumige portugiesische Sprache und ihre Gedichte. Portugiesisch wird ebenso in der Familie gesprochen wie Englisch und Deutsch. Heute ist es noch so, dass Elisabeth mit den Kindern ihre Muttersprache und Dieter mit ihnen deutsch spricht. Außerdem lernten Stefanie und Marco im Laufe der Zeit so gut Englisch, dass es nicht mehr die Geheimsprache der Eltern sein konnte.
Fragt man Stefanie und Marco nach verbliebenen Eindrücken an ihre Kindheit in Brasilien, erinnert sich Stefanie besonders an eine Mutprobe mit Freunden, bei der sie Hundefutter gegessen hatten, und dass sie im Kindergarten zum Abschied ein Buch in portugiesischer Sprache geschenkt bekam. Sie besitzt es heute noch. Auch an leckere portugiesische Speisen vom Steinofengrill, die viel besser schmeckenden Bananen oder an eine Limonade, die sehr fruchtig und süß schmeckte, denkt sie zurück. Sie hat oft mit ihrer Oma gespielt. Dass man dort Weihnachten im Bikini am Strand sitzen konnte, daran erinnert sie sich nicht mehr.
Das sind Geschichten, die ihr ihre Mutter heute erzählt. Sie kann sich aber vorstellen, in dem Heimatland ihrer Mutter später einmal zu leben, oder auch in Afrika. Ihre Muttersprache prägt auch heute noch ihre deutsche Aussprache. Ein wunderbar rollendes ‚R‘ klingt immer mit.
Marco erlebt einen Teil seiner Schulzeit in Curitiba und erinnert sich an gemeinsame Fußballspiele mit seinen Freunden in der Pause auf dem Hof der Privatschule. Sport spielte eine große Rolle wie zum Beispiel Trampolin springen im Unterricht. Überhaupt merkt man im Gespräch, dass Marco, dadurch dass er fünf Lebensjahre in Curitiba verbracht hat, sich an mehr Einzelheiten seines Heimatlandes erinnert wie z.B. daran, dass seine Mutter von montags bis samstags gearbeitet hat, sie am Sonntag frei hatte und die Familie dann im Park war oder die Großmutter zu Besuch kam oder Familientreffen stattfanden. Er liebte Geschichten über Dinosaurier und bastelte mit Unterstützung seines Vaters Verkleidungen für sich mit Flügeln aus Blasenverpackungsfolie.
Auch Busse und Straßenbahnen waren sein Thema, ebenso wie ‚Paradiese‘ aus Holzresten im Sand bauen und wenn es regnete, war es wie eine warme Dusche.
Und dann kam der Moment, als der Fachbereich Pharmazie der Universität in Curitiba geschlossen wurde. Elisabeth hatte dort als Apothekerin gearbeitet und gut verdient. Von ihrem neuen Job konnte die Familie nicht mehr finanzieren werden. Allein das Schulgeld für Marcos Privatschule betrug 350 € und staatliche Schulen in Brasilien arbeiten nicht gut, dass diese Möglichkeit für die Eltern nicht in Frage kam. Für Dieter gab 36 es keine passenden Arbeitsangebote, und so entschloss sich die Familie schweren Herzens, nach Deutschland zurückzukehren.
Dieter machte sich im November 2007 mit den Kindern alleine auf den Weg nach Deutschland. Elisabeth durfte nicht einreisen. Es bestand immer noch der Verdacht einer Scheinehe, auch noch nach 10 Jahren. Alle erinnern sich gut an die Abschiedssituation auf dem Flughafen in Sao Paulo – Stefanie hat unendlich geweint, hatte Angst und verstand als drei Jahre altes Kind die Welt nicht mehr. Marco fand Verreisen spannend.
Später vermisste er vor allem die portugiesischen Verkehrsmittel und Busse und hatte Heimweh. Nachdem die Teilfamilie einen Monat bei der Schwester von Dieter in Denkte gewohnt hatte, fand er eine Wohnung für sie in der Weststadt in Braunschweig. In dieser Wohnung lebt die Familie heute noch. Es ist zwar ein bisschen klein für vier Personen, aber irgendwie auch ein Zuhause geworden. Elisabeth kam dann im Juni 2008 als Touristin nach Deutschland, und es gab viele Hürden mit der Ausländerbehörde zu überwinden, bis sie im November endgültig bleiben konnte. Dieter schrieb sogar einen Brief an den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulf, weil sich die Familie nicht zu helfen wusste. Selbst für die Arge bestand die Familie nur aus drei Personen. Diesen Aspekt genauer zu betrachten, damit ließe sich die Geschichte der Familie B. mindestens um zwei Seiten erweitern.
Marco beschreibt seine Anfangszeit in Braunschweig in der Schule als nicht so leicht.
Die deutschen Wörter der Sprache „lagen unten und die portugiesischen oben“, beschreibt er seine Verständigungsprobleme.
Seine Mitschüler waren natürlich von so einem weitgereisten Schüler fasziniert. Heute lernt Marco in der Schule spanisch, was ihm auf Grund der Verwandtschaft beider Sprachen leichter fällt. Stefanie hat sich damals schnell in Deutsch verständigen können, so dass Elisabeth bei ihrer Ankunft in Deutschland erschrocken ist, wie viel der portugiesischen Sprache ihre Kinder, auf den ersten Blick betrachtet, bereits wieder vergessen hatten.
Überhaupt, Elisabeth und Dieter wären beide gerne in Brasilien geblieben. Hier in Deutschland wünscht sich besonders Elisabeth ein bisschen mehr Wärme der Menschen im Umgang miteinander, und sie hat das Gefühl, dass alle viel weniger gelassen sind. Aber sie lebt hier und versucht sich zu arrangieren.
Sie weiß auch, dass das Gesundheitssystem in Deutschland auf einem moderneren Stand ist und Dieter schon davon profitieren konnte. In Brasilien fühlte er sich eher nicht als Ausländer. Die Sprache war für ihn keine besondere Hürde, und wenn, halfen ihm die Menschen dort darüber hinweg. Im Gegensatz zu Elisabeth hat sich Dieter in Brasilien nicht als Ausländer gefühlt.
So lebt diese Familie mit einem Teil ihres Herzens auch immer noch ein bisschen in Curitiba.
Sie bereichert das Mütterzentrum mit ihren Blicken in die Ferne. Wir möchten versuchen, dass sie in unserem Land mit deutschen Gewohnheiten und Eigenheiten immer mehr ankommen können und sich ihr neues Zuhause irgendwann auch einmal so anfühlt.
[ Anke Bierbaum-Schulte ]